Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke zur Radikalisierung der Protestkultur in Zeiten von Bauernprotesten, Bahnstreik und Letzter Generation. Wie das mit Seehofer und Merkel zusammenhängt und warum es wieder Kompromissbereitschaft braucht.

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    6 months ago

    Dass der Streik der GdL als außer der Norm gesehen wird, hat nichts mit einer Radikalisierung zu tun, sondern damit, dass die anderen Gewerkschaften sich bis zur Unkenntlichkeit deradikalisiert haben. Aber was kann man auch von Gewerkschaften erwarten, deren Vorstandsmitglieder in den Aufsichtsräten der Firmen sitzen, gegen die sie ihre Mitglieder eigentlich vertreten sollen, und denen die Drehtür zu einem hochdotierten Parteipöstchen in der SPD jederzeit offen steht.

    Was die Protestformen angeht, hat die Bevölkerung inzwischen gelernt, dass genehmigte Latschdemos mit tollen Kundgebungen voller Sonntagsreden nichts bringen. Wer den sozialen Kahlschlag der frühen 2000er (unter Rot/Grün) miterlebt hat, kann sich erinnern, dass dagegen regelmäßig Zehntausende friedlich, angemeldet und genehmigt auf die Straßen gegangen sind. Die Politik hat das honoriert, indem sie sinngemäß gesagt hat: “Guck mal, da gehen ja wirklich Alle auf die Straße, also haben wir die Last unserer Sparpolitik gerecht auf alle Schultern verteilt.” Ähnliche Rhetorik hört man inzwischen wieder.

    Die Blockadeaktionen der Letzten Generation haben vor Allem gezeigt, dass man mit solchen Aktionen leicht die Bevölkerung gegen sich aufbringt, wenn sehr viele unter einer sehr kleinen Aktion zu leiden haben. Die Bauern, die Habecks Fähre blockiert haben, haben das eigentlich sehr geschickt gemacht und sehr gezielt einen der für ihr Problem verantwortlichen Politiker blockiert, ohne dabei viele Andere zu stören. Ich kenne einige Leute, die die Straßenblockaden der Letzten Generation nicht gutheißen, aber die Aktion, bei der sich Aktivisten auf Sylt an Privatjets geklebt haben, sogar gefeiert haben. Da kamen dann so Aussagen wie “Endlich trifft das mal die Richtigen, so sollten das die, die sich immer auf die Straße kleben, auch machen!”

    Dass Politiker für ihren Katastrophentourismus ins Hochwassergebiet angegengen werden, ist mehr als nur verständlich, denn inzwischen hat sich herumgesprochen, dass dabei nichts herumkommt, außer Sonntagsreden und zusätzlichem Aufwand für die Leute im nun doppelt (von der Katastrophe selbst und von den Politikern mit ihrer Presse-Entourage) heimgesuchten Katastrophengebiet. Dadurch, dass dank Klimawandel größere Naturkatastrophen häufiger vorkommen, ist die Erinnerung an die leeren Versprechnungen bei der letzten Katastrophe noch frisch, wenn wieder Politiker in Gummistiefeln beim Hochwasser einlaufen, um die Not der Menschen vor Ort als Kulisse für ihren Wahlkampf zu missbrauchen.

    Dass die Nazis auf mit ihrer Ideologie nicht völlig inkompatible Proteste aufspringen, war zu erwarten. Nazis waren schon immer Bauernfänger, die opportunistisch jede Gelegenheit genutzt haben, um Leute auf ihre Seite zu ziehen. Seitens Politik und Medien wurde der Bevölkerung hinreichend klargemacht, dass Alles links von SPD und Grünen das absolut Böse ist, dem man nie auch nur eine Chance geben wird. Leute, die von den etablierten Parteien zu Recht enttäuscht sind und keinen besonders starken moralischen Kompass haben, lassen sich dann halt auf die Seite der Nazis ziehen. Etablierte Parteien, die glauben, durch das Nachplappern der braunen Rhetorik Stimmen zurückgewinnen zu können, geben den Nazis nur noch zusätzliche Legitimität, denn wenn andere Parteien auch sagen, dass Ausländer böse sind, dann kann die AFD ja gar nicht so falsch sein. Geschichte wiederholt sich.

    Mangelnde Kompromissbereitschaft dürfte auch daher kommen, dass in vielen Bereichen das Ende der Fahnenstange schon sehr nahe ist. Ein Kompromiss an sich ist nichts wert, wenn es um eine Sache geht, die keine oder nur sehr kleine Kompromisse zulässt. Privilegierte Berufspolitiker und Publizisten, wie der Interviewpartner hier haben schon alleine durch ihr Einkommen einen wesentlich größeren Spielraum für Kompromisse, als ein Großteil der Bevölkerung. Leider gibt es eine Kultur, die den Kompromiss um des Kompromisses Willen als ein Gut an sich feiert und nicht mehr zulassen will, dass es auch Situationen gibt, in denen es keine Kompromisse geben darf. Das versteht leider der aktuelle Journalismus auch nicht mehr, denn da wird gerne jede Aussage einfach nur als eine Meinung interpretiert, zu der es eine Gegenmeinung geben darf, die dann gehört werden muss. Auch wenn es sich bei einer Aussage um harte, erwiesene Tatsachen handelt. Deshalb wurde zum Beispiel während der Pandemie den Schwurblern so eine große mediale Plattform gegeben. Legitime Kritik an Maßnahmen ist so zwangsläufig im Gekeife der maskenverweigernden Globulifresser mit ihren 5G-Aluhüten untergegangen.

    • Quittenbrot@feddit.deOP
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      6 months ago

      Ich teile deine Einschätzung in weiten Teilen, aber hier würde ich gerne einhaken:

      Leider gibt es eine Kultur, die den Kompromiss um des Kompromisses Willen als ein Gut an sich feiert und nicht mehr zulassen will, dass es auch Situationen gibt, in denen es keine Kompromisse geben darf.

      Wir leben in einem System, das qua Architektur immer in irgendeiner Weise den Ausgleich der Interessen, den Kompromiss sucht. Am Ende finde ich das ganz gut so, auch wenn ich dadurch meine persönliche Vorstellung nie voll durchsetzen werde.

      Was sich bei den Schwurblern im Großen, aber zb auch hier bei uns im Kleinen zeigt, und was ich wirklich bedenklich finde, ist diese zunehmende Fragmentierung der Bevölkerung in sich mehr oder weniger unversöhnlich gegenüberstehende Lager.

      Die Typen wollen sich ja nicht nur nicht impfen lassen, sondern verabschieden sich direkt in eine quasi losgelöste Parallelgesellschaft. Du sagst: die Medien zeigen keine klare Kante und multiplizieren einfach deren Aussagen. Die sagen: die miese Systempresse setzt das Meinungsdiktat durch. Oder, um hier bei uns vor der eigenen Haustür zu bleiben: je nach politischer Einstellung sind jeweils alle Linken, SPDler, Unionler, FDPler oder die Grüüünen verachtenswerte Geschöpfe, denen man nur das schlimmste wünscht. Es ist fast so als hätte die AfD es indirekt geschafft, auch den Umgang der normalen Parteien untereinander zu vergiften.

      Ich finde, das schwingt für mich auch in diesem Interview mit und ich halte den Punkt für relativ wichtig für unsere Zukunft: wir werden und sollen uns immer streiten, da wir unterschiedliche Meinungen haben, aber wir müssen das wieder im Rahmen eines gemeinsamen Fundaments machen. Das Gegenüber ist kein Todfeind, sondern denkt nur anders als ich.

  • taladar@feddit.de
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    6 months ago

    Das Grundproblem auch bei den Klimaaktivisten ist, dass sie ein Stück weit die staatlichen Institutionen infrage stellen

    Das sehe ich eher nicht so. Ich sehe dort die staatlichen Institutionen die sich selbst in Frage stellen. Wir haben hier den extrem seltenen Fall eines Anliegens was für unsere gesamte Gesellschaft relevant ist aber was nicht nur vom Staat, der eigentlich für solche Dinge zuständig ist, nicht in der Weise angegangen wird die dem einen oder anderen gefällt sondern bis auf ein paar Alibi-Projekte quasi vollständig ignoriert wird. Nicht mal eine geordnete Diskussion über das beste Vorgehen und ein Ausloten der Möglichkeiten findet statt.

    dass sie auch gegen einen erheblichen Teil der Bevölkerung vorgehen.

    Und auch hier wird wieder der Fehler begangen die Ansichten dieses Teils der Bevölkerung als gegeben und nicht als fabriziert von Medien und Politik zu sehen. Woher haben denn diese Leute ihre Ängste und Ansichten und ihre Einstellung gegen die Veränderungen? Praktisch alles was sie über den Klimawandel und potentielle Maßnahmen dagegen wissen kommt von einer sehr ideologisch, emotionalen Presse-Berichterstattung.

    • tryptaminev 🇵🇸 🇺🇦 🇪🇺@feddit.de
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      6 months ago

      Wir haben hier den extrem seltenen Fall eines Anliegens was für unsere gesamte Gesellschaft relevant ist aber was nicht nur vom Staat, der eigentlich für solche Dinge zuständig ist, nicht in der Weise angegangen wird die dem einen oder anderen gefällt sondern bis auf ein paar Alibi-Projekte quasi vollständig ignoriert wird

      Es ist noch eine Spur krasser. Die Bundesregierung verstößt aktiv gegen geltendes Recht. Sowohl bei den Sektorzielen im Speziellen, als auch dne Klimazielen insgesamt. Eine Regierung, die die Gesetze des Landes missachtet, richtet viel mehr Schaden an staatlicher Ordnung an, als es der Protest dagegen je tun könnte.

    • Quittenbrot@feddit.deOP
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      6 months ago

      Lass mich ein bisschen Teufels Advokat spielen:

      Nicht mal eine geordnete Diskussion über das beste Vorgehen und ein Ausloten der Möglichkeiten findet statt.

      Es gibt doch eine Diskussion und auch Maßnahmen zum Klimaschutz? Oder meinst du etwas anderes?

      Und auch hier wird wieder der Fehler begangen die Ansichten dieses Teils der Bevölkerung als gegeben und nicht als fabriziert von Medien und Politik zu sehen.

      Aber gilt das nicht für alle Meinungen? Die sind doch eigentlich immer im erheblichen Maße von Faktoren wie Politikern, Medien etc abhängig.

      Praktisch alles was sie über den Klimawandel und potentielle Maßnahmen dagegen wissen kommt von einer sehr ideologisch, emotionalen Presse-Berichterstattung.

      Das stimmt. Die Frage ist nur, wie man mit dieser Herausforderung umgeht. Ist es nicht so, dass man letztlich kaum daran vorbeikommt, diese Auseinandersetzung durch Argumente zu gewinnen?